
Stehen wir vor einem Scheideweg? : Jahrhundertwahl in Verhältnissen gesehen
Der Versuch einer neutralen Auswertung
Das Wichtigste vorweg: Anders als es - wenn man die Auswertungen verfolgt - vielleicht den anscheint hat, kann aus meiner Sicht keine der Parteien aus dem Wahlergebnis etwas für sich Parteispezifisches entnehmen. Schon gar nicht etwas Positives. Die Sieger der Wahl sind keine wirklichen Sieger. Und die Verlierer der Wahl auch keine wirklichen Verlierer. Denn: Das war mit Abstand eine der taktischsten Wahlen seit des Mauerfalls. Überschattet von der EU Krise und dem Paradigmenwandel der Transatlantic Brücke.
Nicht ein einziger "Proband" in meinen Beobachtungen, Gesprächen und Tischrunden in den letzten Wochen hatte einen klaren Kandidaten oder eine deutliche Tendenz zu einer Partei für sich nennen können. Mit Abstand und ohne Ausnahme jeder mit dem ich sprach, hat taktisch gewählt "um Schlimmeres verhindern zu wollen", wie es oft hieß. Oder damit da "endlich mal was passiert". Eine nicht ungefährliche Taktik, wie man wenn man die Resultate aus ähnlichen Ideen in anderen Ländern beobachtet gut sehen kann. Egal aus welchem politischen Lager stammend. Niemand war auch nur von einem einzigen "Kanzler-Kandidaten" oder einer möglichen Regierungs-Partei überzeugt. Politik lässt Persönlichkeiten missen. Jeder versicherte mir - und so klang es anderorts wohl ähnlich - dass man eigentlich "zur Zeit niemanden ernsthaft wählen könne" und die Politik noch nie so wenig Charisma und Hoffnungsträger im Petto hatte wie heute. Das ist bezeichnet. Und das ist auch genau das, was zu 99% über dieser Wahl stand. Wie schon einmal nach einer Jahrhundertwende. Und wie man sie auch eigentlich werten müsste. Aber welch Wunder: niemand tut es. Zumindest am Morgen nach der Wahl noch nicht.
Dass es aus unserer Analyse heraus keine Sieger sondern nur Verlierer gibt, hat sicherlich nicht mehr als 24 Stunden Vorsprung nach der Wahlnacht. Schon morgen werden wir diese Rhetorik auch anderorts lesen. Denn die CDU hat nicht an Stimmen gewonnen, sie hat an Stimmen verloren. Und hat nur deshalb ausreichend abgeschnitten, weil es genug taktische Wähler gab, die sich ausgerechnet haben, auf diese Weise Rot/Grün zu beenden und AfD zu verhindern. Einfach weil die CDU genug Basis-Stimmen hat um in der Wähler-Rechnung ein Umgewicht darzustellen. Das Gleiche gilt für die Linke und BSW. BSW hat verloren weil die taktischen Wähler sich ausgerechnet haben, wer am ehesten eine Chance hat in die Regierung und den Bundestag einzuziehen und zu der AfD ein Gegengewicht am anderen "Flügelrand" zu sein. Deshalb entschlossen sich potentielle "Schwanker" zwischen Linke und BSW für Die Linke. Und andere wieder für SPD statt BSW.
Die SPD ist die einzige Partei, die obwohl sie so schlecht wie noch nie in ihrer Geschichte abgeschnitten hat, jedoch froh sein muss, dass sie in dem taktischen Wahlrondell nicht sogar noch schlechter abgeschnitten hat. Denn viele ihrer Stimmen sind ebenfalls taktischen Wählern zuzurechnen. Im Schlimmsten Fall "lieber nochmal Scholz als AfD oder Merz", hieß es oft. Und auch die AfD hat aus unserer Sicht keinen Grund zum Feiern. Denn die Anzahl der Protestwähler die ideologisch vielleicht gar nicht so synchron zu Parteimitgliedern sind, wie die Partei sich das vielleicht erhofft, werden nicht lang bei der AfD bleiben wenn sie merken, dass sich im Land auch ohne AfD an der Spitze etwas in ihrem Sinne ändert. Die AfD war halt nur schlau genug "die heißen Eisen" anzufassen, die der Bürger als "ignoriertes Problem" einstufte. Aber etwas anfassen und benennen ist das Eine. Aus der Opposition heraus kein Hexenwerk. Und der Deutsche ist ein Gewohnheitstier und wünscht sich insgeheim, dass eine der "Altparteien" ihre Probleme löst.
Und dass ausgerechnet der Osten so stark blau pigmentiert auf der Karte aussieht hat weniger damit zu tun, dass "der Osten rechts sei", wie es im Westen immer wieder gern herbei geredet wird. Sondern damit, dass der Osten kulturell eine andere Vorgeschichte vor der Einheit und weniger Angst vor drastischen Veränderungen hat. Da sie damit Erfahrung haben. Während Westdeutschland sich in seiner Seele ja nie mehrfach so stark verändern musste wie der Osten innerhalb kürzester Zeit, vom Einmarsch der Russischen Truppen Ende des 2. Weltkrieges angefangen bis zum Mauerbau, einem neuen Staat und dem Mauerfall und wieder einem neuen Staat, ist der Westen dem Irrtum auferlegen, es ginge um Ideologien in den Köpfen der Menschen. Nein, solche Umbrüche zehren an der Seele einer Kulturregion, wie man ja auch gut in anderen Ländern sehen kann, die viele Umbrüche hinter sich haben. Und reißt Hemmschwellen gegenüber Experimenten ein. Vieles wird im Kontext Ost meiner Ansicht nach falsch interpretiert. Und es gibt im Osten auch gar nicht so viele Sympathisanten für Russland, wie jüngst unterstellt wird. Vielerorts werden sie als "ehemalige Besatzer" mehr als nur kritisch gewertet und der Einmarsch auf Schärfste mit Empörung quittiert. Und radikalisierte ziellose Jugendbanden (ohne sie zu verharmlosen!) oder Politik verdrossene Rentner sollte man eh immer aus solchen Spekulationen herausnehmen. Die AfD sollte sich nicht zu früh freuen. Vor allem wenn der Osten mitbekommt, wie wenig die Partei sozial in ihren Zielen ist. So zumindest meine (nicht durch Ost- oder West-Kultivierung verklärte) distanzierte Sicht auf die Karte.
Aber das ist nur der Schmelzkern der unserer Ansicht nach völlig vernebelten und voreiligen Auswertung der Wahl durch die eigenen Parteianalysen und dem dadurch auch indirekt beeinflussten Medienecho, welches ja dahingehend auch ein wenig gezwungen ist diese zu "zitieren". Von oben und ideologiefrei betrachtet und im Kontext dieser Taktikwahl und dem Umstand wie es zu dieser Wahl überhaupt gekommen ist, kann man viele dieser Auswertungen getrost mit kritischem Auge betrachten. Darüber hinaus ist auch das Dogma des politischen Koordinatensystems immer noch viel zu stark integriert in die Auswertungen. Und es fehlt dadurch vielfach an Neutralität, um es richtig zu betrachten. Aber auch wir können es nur versuchen. Neutralität ist wie Grenzwertberechnung: nur ein Annäherungsversuch, dem man nie zu 100% erreicht. Aber erstrebenswert ist es für eine Analyse zur DIESER Lage allemal. Und das ist was wir hier versuchen wollen. Die Frage ob wir vor einem "Scheideweg" stehen lässt sich auch nicht in Kürze beantworten.
Aber first things first: Wie bei ISC schon mehrfach in den letzten 2 Jahrzehnten geschrieben, hat das politische Spektrum unlängst "ausgedient". Ein Koordinatensystem von Links bis Rechts über die Mitte dient mehr nur noch dazu seine politischen Gegner für vermeintlich sich abzeichnende Tendenzen an die Wand zu nageln, als denn um sich selbst an Idealen oder Ideologien zu verhaften. Was eh Blödsinn ist, wenn man wirklich sinnvoll Politik machen will. Diesen Scheideweg haben wir schleichend bereits vor mindestens 2-3 Jahrzehnten betreten. Und über Landesgrenzen hinaus sieht es dann eh noch einmal ganz anders aus. Mit den Koordinaten, meine ich. Aber dazu später mehr. Schaut man sich die Parteien, ihre Figuren und Programme genau an, merkt man schnell, dass die Vorstellungen der Menschen gegenüber der Realität da schon seit sehr langer Zeit sehr stark auseinander gehen. Nicht umsonst kam irgendwann der Wahl-o-mat auf den Plan. Und hat nicht selten schon zu lustigen und öffentlich diskutierten Ergebnissen geführt, welche die Nutzer überraschten.
Und aus meiner Sicht (ebenfalls schon mehrfach von mir angemerkt) kommt noch hinzu: eine Gesinnung ist auch noch lang kein Regierungsplan. Und noch weniger ein vertrauenswürdiges Signal für eine international ernstzunehmende, seriöse und diplomatisch kluge Korrelation zwischen Innen- und Außenpolitik. Weshalb ich auch einige in Deutschland zur Wahl stehenden Parteien schon allein wegen ihres Namens seit ihrer Gründung zum Gespräch bitten müsste. Was soll denn bitte Grün, Links, oder Christlich für ein Regierungsmotto oder Leitfaden für eine ganzheitliche Landesstrategie über alle Themen hinweg sein? Vor allem während wir anderen Ländern vorhalten, sie wären zu dogmatisch oder ideologisch oder religiös strukturiert? Während es ausgerechnet in Deutschland sehr auffällig ist, dass wir einige Ideologien in den Parteinamen tragen. Und das ist nicht nur für das Ausland sehr verwirrend. Auch Wähler, die sich mit vielen politischen Aspekten beschäftigen wollen welche im Land angepackt werden müssen, können diese Einseitigkeit im Endeffekt ja nur in einer Ampel ertragen. Also wenn die Parteien dem Namen wirklich entsprechen. Was ja, wie bereits eingangs erleutert, heut unlängst nicht mehr der Fall ist. Manchmal vielleicht auch Gott sei Dank.
Add new comment