Reizüberflutung und Reaktionschaos

Britta Leuchner
Geschrieben von:

Britta Leuchner

Filmkritikerin, freie Publizistin

Der Mensch vor dem sozialen Infarkt

Reizüberflutung und Reaktionschaos

Eindrücke, Emotionen, Meinungen

Preview Critical Mass - Eine Fotografie von Matthias Ripp - zur Verfuegung gestellt unter der CC BY 2 Lizenz

"Critical Mass" | photo by Matthias Ripp | provided by flickr | ©  CC-BY-2.0

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Lesedauer: 7 mins

Action-Filme ersaufen in millionenschwerer CGI und "realistischen" Explosionen mit herumfliegenden Gebeinen und 2 Tonnen Kunstblut während die westliche "heimische" Welt am Fernseher oder Internet erschüttert über Terroranschläge in "ihren" Großstädten vor Angst um ihre Kinder die Fensterläden schließt und Hinweise über mutmaßliche Terrorverdächtige an die Polizei in der Hoffnung auf die 100.000 Euro Lösegeld weitergibt. Deutsche "Pseudo"-Blockbusterfilme ersaufen in unterirdischem Stammkneipenhumor um die malochende Meute bei Laune zu halten und behaupten sich als "deutsche"(!) Stars, während die Mehrheit ihres Standes tendenziell immer mit einem Auge nach Hollywood schielt. Buchläden ersaufen in schlecht geschriebenen Krimis für die Rentner sowie Memoiren und Biografien sich selbst allzu wichtig nehmender prominenter Lokal-Persönlichkeiten, die glauben ihr Leben wäre eine Verfilmung wert, was aber eigentlich nur den Kreis des Ökosystems - dem Niveau deutscher Blockbusterfilme zu Gute kommend - wieder schließen würde. Hörspiele und Nachmittagsverfilmungen mit nervigen "Kutschi-Da-Da"-Stimmen von "Die Drei Fragezeichen" und "TKKG" ersaufen die Kinderzimmer der Bio-Mütter in Berlin Prenzlauer Berg mit "Kicher"-Romantik. Und ein zynischer Kommentator auf zeit.de ersäuft in unerträglich überladener orgasmischer Worthülsen-Masturbation zum Selbstzweck um einen Arthaus-Film bezüglich seiner vermeintlich ersaufenden Wehleidigkeit anzuklagen als wäre dies das einzige Metier, das in irgendetwas "ersaufen" würde.

"Falling Down" hieß der umstrittene Film, der 1993, mit Michael Douglas in der Hauptrolle als Großstadtneurotiker kurz vor dem Kollaps, das Szenario filmisch dokumentierte, was passiert wenn ein Mensch auf Grund der wachsenden Obskuritäten um ihn herum, die keiner außer er zu bemerken scheint, nicht mehr bereit ist, dies unkommentiert hinzunehmen. In einer der Interpretationsmöglichkeiten des Films bot dieser eine eher fragwürdige Lösung des Problems an. Wenn man den Film denn "wortwörtlich" nehmen würde. Ja, 1993 ... In einer wohlwollenderen möglichen Interpretation des Films könnte das weniger als Anleitung, sondern mehr als Warnung und Hinweis dahingehend verstanden werden, welche Dinge aus Menschen solch derart unberechenbare Zeitbomben machen könnten, dass sie mit Knarre durch die Stadt laufen um Burgerläden auf ihre schlechten und vom Werbeposter abweichende Produkte hinzuweisen. Nicht nur in Deutschland traf der Film nach dem Mauerfall und dem ersten "Kater" ehemaliger Ostbürger, denen bald ernüchternd aufgefallen ist, wie viel der Glanz der westlichen Welt wirklich wert ist, einen allgemeinen Zeitnerv, denn gerade zum Ende der 1990er hin zeichnete sich eine starke Resignation in der westlichen Welt und ihrer doppelseitigen Konsumgesellschaft ab. Unter anderem die Geburtstunde der Bio-Produkte und der große Zulauf bei Naturschutzorganisationen zeichneten ein Bild eindeutiger Tendenzen. Aber ob der Film so wohlwollend aufgenommen worden wäre kurz nach dem Schul-Amoklauf? Oder nach 09/11? War der Film an dem Punkt vielleicht nicht zu Ende gedacht?

Worauf ich hinaus will: Einer der entscheidenden Punkte ist doch in unserer spontanen täglichen Wahrnehmung der fehlende Filter. Je sensibler ein Mensch, um so schwerer ist es für sie/ihn zu filtern, was um sie/ihn herum Reize auslösen könnte. Und das "unsere" Welt reizüberflutet ist, davon muss ich glaube ich niemanden mehr überzeugen. Und Reize können auf ganz unterschiedliche Weise ausgelöst werden. Und sind kein eindeutiger Indikator für Interesse. Einer der großen Fehler vieler Marktanalysten. Vieles kann heute unser widerwilliges "Interesse" wecken, obwohl es uns eigentlich gar nicht interessiert. Aber es löst bei uns spontan eine unüberlegte Reaktion aus! Und die wird oft überbewertet.

Die Neuzeit hat Methoden gefunden uns zu stimulieren, ohne dass es eigentlich Dinge anspricht, die uns wirklich interessieren, und saugt uns in einen Strudel der verstreuten Aufmerksamkeit, damit wir bei dem bleiben, was sie uns mitteilen möchte. Mit Grund dafür ist das vermeintlich notwendige "ewige Wachstum" mit den daraus resultierenden immer vielfertiger sich auffächernden Industriezweigen und Zwischenebenen, was eine der Säulen unserer Gesellschaftsordnung darstellt, sowie die zunehmende Individualität im selbstdefinierten Ich, die einerseits vereinsamen lässt und andererseits zu Aufmerksamkeitssyndromen und Darstellungsdrang führt. Die Anzahl der "Sender" wächst und die der Empfänger schrumpft. Es muss Nachdruck ausgeübt werden, um durchzudringen. Und so sendet es auf allen Kanälen und versucht uns auf alle erdenkliche Arten zu stimulieren bis hin zur Provokation, Hauptsache wir reagieren darauf.

Dabei sollten wir nicht vergessen uns auf unsere Fähigkeiten zu besinnen. Eine davon ist die selektive Wahrnehmung. Jeder hat die freie Wahl auf was er sich gern einlassen möchte und auf was nicht. Jeder hat die Möglichkeit in sich hinein zu "horchen" und heraus zu finden, welche äußeren Eindrücke gut tun und welche nicht. Wenn man es kann. Oder sagen/fragen wir es anders herum: was richtet in mir am wenigsten Schaden an. Je älter man wird um so leichter fällt einem die Antwort auf der Art Fragen. Zu oft wissen wir gar nicht von uns, was das dann wäre. Und lassen uns somit auf den "Tanz mit dem Teufel" ein.

Ein weiteres Problem stellt meiner Ansicht nach die spontane Rezeption des Erfahrenen dar, die gekoppelt mit der #Reizüberflutung eine Selektion erschwert. Hier wird dann oft nicht mehr nachgehakt und hinterfragt, was uns an bestimmten Dingen reizt(e) und wider Willens dazu führt(e) entweder von uns Aufmerksamkeit zu bekommen oder unüberlegt zu reagieren. Im Rückblick fällt es uns oft leicht zu erkennen, was uns nicht gut tat oder wo wir falsch reagiert haben. Im Moment, im Augenblick, im Hier und Jetzt jedoch, oft nicht. Besonders in der Generation Internet und Smartphone erscheint die spontane Reaktion auf eine Information wie antrainiert, wie bereits angesprochen ja provoziert, herausgekitzelt, um dann vermeintlich aus uns heraus zu platzen. Wie kleine Stromschläge wird der Äther dazu benutzt unsere Emotionen zu spontanen Reizen und Reaktionen jeglicher Art zu führen und abwechselnd verschiedene Seiten in uns zu bedienen. Eine Form der dosierten Entladung? Im besten Falle. Nebenwirkungen schwer aufzuzählen ...

Der besonnende, voraus- und zurückblickende Mensch, der Mensch, der Zeit hat nachzudenken, ist weise. Aber er läuft Gefahr Dinge anzustauen. Der spontane Mensch et Momentum, der Mensch in einer Gruppe oder durch Emotionen angestachelt ist oft das Gegenteil davon. Egal welchen Standes oder Wissensgrades.

Ich habe eigentlich noch nie einen Menschen getroffen, der nicht in der richtigen Stimmung und in einem ruhigen Moment in der Lage gewesen wäre über sich und die Welt ein paar wohltuende besonnende Worte zu verlieren und "positive Energie" (Als Konsenzbegriff gemeint) frei zu setzen. Egal welcher Natur dieser Mensch war, woher er kam, wohin er ging, wer er der #Meinung anderer nach war, oder was er verbrochen hatte. Und das sage ich trotz traumatischer Schulerfahrungen. Und glauben Sie mir, ich habe bereits SEHR unterschiedliche Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus kennengelernt.

Sie alle sind fähig unseren in der modernen Gesellschaft tief verwurzelten Wunsch nach dem "übernatürlichen" moralisch erhobenen "milden" Wesen (in der Philosophie das von uns projizierte "Göttliche", die Vernunft), das was uns in Literatur, Film und auch in der Umkehr indirekt bei der Empörung und Enttäuschung mangels dessen begegnet, zu erfüllen, wenn sie nur die Zeit und Ruhe dafür bekommen. Flankiert wird diese bereits uralte Erkenntnis letzten Endes weitestgehend nur von Zynikern, Auf- oder Angestachelten, sowie Menschen, die glauben, dass sie niemals anderen zu Opfer fallen könnten und sich selbst für unantastbar halten, die den ganzen lieben Tag nichts anderes zu tun haben, als Menschen in Gut und Böse zu unterteilen. Wo dann komischer Weise auffallend oft die Mehrheit eher zu Letzterem gezählt wird und sie selbst zu ersterem, um Ihre Antihaltung zu rechtfertigen. Das erinnert mich immer ein wenig an den Witz "Nach der Radiodurchsage: Von wegen 'Ein(!)' Geisterfahrer! Das sind Tausende!!" - Dabei fehlt Ihnen selbst oft die Ruhe und der innere Frieden, um sich von diesem vergiftenden Ansporn und Blickwinkel zu befreien. Auch sie fallen dem Prinzip der Anstachlung und den akuten Reizen als Auslöser zum Opfer und erkennen ihre Rolle darin nicht.

Ein Blick von "oben" auf unsere Gesellschaft, wie auf das Getümmel in einem Ameisenhaufen kann manchmal nicht schaden um mit Abstand auf bestimmte Phänomene blicken zu können, sie überhaupt erkennen zu können. Mein sehnlichster Wunsch ist in diesen Zeilen unverkennbar: Die Annäherung des Menschen an sein eigenes Idealbild, das vernunftbegabte Wesen, was wir in Gedanken alle sind und hoffen in anderen sehen zu können, zu begegnen.

Erzwingen kann man dies nicht, und wenn solche Texte wie dieser allzu oft die Runde machen, werden sie früher oder später auch zu Umkehr-Aggressionen führen. :-) Somit gibt es keine Lösung für dieses Problem. Der Mensch ist und bleibt was er ist: Das zwiegespaltene "Halb-göttliche" aus seinen Träumen, als auch das Tier aus der Steppe, was eines Tages lernte aufrecht zu gehen.

Was aber nicht heißt, dass es immer "aufrechte" Gedanken hegt.

Comments

Philanthrop

Als ich damals den Film "Falling Down" sah, hielt ich ihn für total überzogen und konnte nicht ganz nachvollziehen wie man auf so eine Idee kommt so eine Geschichte zu schreiben/verfilmen. Mittlerweile kann ich die Intention des Film und auch dieses Artikels jedoch sehr gut verstehen. Wir sind in einer Zeit angekommen, in der die Obskuritäten und Absurditäten unserer Gesellschaft schon so manchen Terry Gilliam Film in den Schatten stellen könnten.

Jeannie von Wegen

Es ist so traurig und schade das jene Menschen, die von all den Reizen so abgestumpft sind, dass sie gar nicht mehr reagieren und empfinden können, als "normal" und überlegen angesehen werden. Und die Menschen, die es in tiefe Trauer stürzt wenn sie die täglichen Nachrichten sehen, als Schwache Heulsusen und verweichlicht bezeichnet werden. Welcher "normale" Mensch kann sich denn bitte daran erfreuen, wenn bewaffnete Menschen einfache Familien und kraftmässig Unterlegene töten, und sei es nur in einem Film? Wie kann es denn als "normal" gesehen werden, wenn das Publikum im Kino so richtig losgröhlt und lacht wenn so eine richtig fette Bombe einschlägt und man Blut und Gebeine durch die Gegend fliegen sieht... Wenn das auf unserer Erde normal sein soll, dann möchte ich gerne auswandern... auf einen anderen Planeten, ganz weit weg von den "normalen" Menschen.

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