Keine Würze in der Kürze

Sarah Bies
Geschrieben von:

Sarah Bies

Sozialpädagogin, Freie Kolumnistin

Symbole, Definitionen, Methoden

Keine Würze in der Kürze

Vereinseitigung durch Konstruktion

Preview Abbildung von Gedanken auf Kreidewand Karrikatur

Head. | photo by geralt | provided by pixabay | © Public Domain CC0

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Lesedauer: 3 mins

Vereinseitigung kann zunächst dazu dienen, Übersicht zu schaffen, im Labyrinth unserer Gedankengänge Eckmarker und somit vielleicht das Gefühl von Sicherheit zu hinterlassen. Im Bereich der Meinungsbildung kann sie aber eben so gut Manipulationswerkzeug sein. Vereinseitigungen funktionieren häufig an der Schnittstelle zwischen dem Bedürfnis nach Sicherheit oder vermeintlicher Klarheit und Informationsmangel. Vielleicht weil sie Dinge, die wir schon immer glauben wollten, die somit leicht in unser Denken integriert werden können, unterstützen. Oder weil sie die Basis für Argumente liefern, die die Vertretung unserer Interessen legitimieren.

Die Vereinseitigung durch Konstruktionen hat eine lange Geschichte. Als Beispiel seien nur die Berichte der Reiseschriftsteller genannt, die im 19. Jahrhundert sexuelle Praktiken im Harem beschrieben, ohne je einen Harem betreten zu haben.

Und warum? Weil sich diese Berichte im Europa des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuten, da die Leserschaft wohl zu repressiv aufwuchs oder von gesellschaftlichen Konventionen so geprägt war, dass sie ihre Bedürfnisse selber wohl nicht ausleben konnten. Diese Ausgliederung und Projektion und somit die Möglichkeit, Bedürfnisse indirekt auszuleben oder ihnen zumindest zu begegnen, trägt bis heute zur Bildung von bestimmten Assoziationen mit dem "Orient" bei. Das psychologische Modell kommt mir dabei sehr bekannt vor. Wer kennt nicht das Bild eines TV-Junkies, der sich (halb)nackte Frauen im Fernsehen anguckt - in welchem Format auch immer - das Ganze mit "Unmöglich! Wer guckt sich denn sowas an?" kommentiert, den Ausschalter jedoch außer Reichweite lässt?

Aber zurück zu den Vereinseitigungen. Sie funktionieren vielleicht dadurch, dass man nicht an verschiedenen Orten gleichzeitig sein kann oder will. Damit seien nicht nur Gebiete, sondern auch mentale Orte gemeint. Es ist schwer, das Halbwissen oder die Irreführungen als solche zu entlarven. Nur das Wissen, dass es immer verschiedene Seiten und Aspekte gibt, dass diese Konstruktionen z.T. politischen Interessen dienen, kann uns vor der Übernahme von Informationen bspw. aus den Medien bewahren. Man kann zwar nicht alles wissen, aber das präsentierte "Wissen" kann anhand von einseitigen und ähnlichen bzw. sich wiederholenden Informationen Skepsis verursachen. Zumal, wenn man sich bewusst macht, wie anfällig die eigene Wahrnehmung ist: Wie kann man da in einem Netz von Interessenslagen einer Wahrnehmung trauen?

Das ist sehr höflich formuliert, denn das hieße, dass hier Wahrnehmungen, Perspektiven auf die Realität (verzeiht mir, liebe Konstruktivisten. Ich verwende dieses Wort aus Alternativlosigkeit) wiedergegeben werden, d.h. Ermöglichung von Teilhabe. Schon hier lautet die Antwort für mich: Ich kann dem nicht trauen. Geht man einen Schritt weiter, muss man davon ausgehen, dass die Wahrnehmung auf dem Weg zur Information möglicherweise verfälscht wird. Oder anders ausgedrückt: Dass die aus der Wahrnehmung verdichtete Information die Vielfalt der Realitätswahrnehmungen vereinseitigt - in dem Moment, wo sie alleine steht. Eine interessante Abhandlung zu diesem Thema lieferte im Übrigen bereits die Essay "Alles eine Frage der Interpretation" (1999) von Autor, Theater & Filmemacher Sebastian Ugovsky - in der die Irrwege unserer Kommunikation und deren Verarbeitung sehr sinnbildlich und mit viel Liebe zur Absurdität aufs Korn genommen werden. Eine gute Ergänzung hierzu ist auch der Interscenario-Artikel Wissen ist eine Glaubensfrage.

Geht man davon aus, dass Wahrnehmung und Informationen trügerisch sind (und man eigentlich niemandem trauen kann), scheint einem nichts anderes übrig zu bleiben, als möglichst viele Blicke auf die aktuellen Geschehnisse gegenüber zu stellen (was im Übrigen die Idee von interscenar.io ist) und Fragen zu stellen, mit dem Bewusstsein, dass es keine Instanz gibt, die eine Antwort liefern kann, und dass, wenn es eine solche Instanz gäbe, diese eher wie Gegen-Fragen klingen würden, als wie einfache Antworten.

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