Es gab eine Zeit, da glaubten Menschen, die aufgewühlt auf die Straßen gingen, um den adligen Schnösel aus den französischen Sonnengärten zu verjagen, dass alles davon abhinge, was ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen sich nur erdenken kann. So glaubten sie auch, dass nur ihr Wille und ihre Wut es waren, die das möglich machten und die Geschichtsbücher sind voll von aufopferungsvollen Helden mit Schippe und Spaten, die die Kirche entmachteten, die Ihnen zu neuen Rechten verhalfen, wann auch immer in der Geschichte der Menschheit es von Nöten war, es ihre Wut war, die die Mauer zu Fall brachte, die Inquisition beendete.
Die Wahrheit ist schmerzlich doch jedem halbwegs gebildeten Historiker bewusst: Der Mob kommt nach dem Anfang vom Ende. Nicht umgekehrt. Die Dinge verändern sich einfach. Vorher bereits. Und ihre Veränderung wird in letzter Sekunde wahrgenommen. Vom Mob. Der nur darauf wartet ein paar Schuldige zu köpfen. Die französische Revolution war nur möglich, weil das Machtverhältnis sich unlängst geändert hatte, die Mauer konnte nur fallen, weil unlängst innerhalb der Führungskaste in der #DDR Zweifel aufkamen ob es so weitergeht, unlängst Pläne vorlagen, Honecker zu entmachten, Künstler und Intellektuelle sich Mut antranken in heimlichen Sitzungen, in denen es schon längst darum ging, was danach kommen solle. Grenzsoldaten anfingen über zu laufen, eine Demonstration nicht mehr Gefahr lief gewaltsam beendet zu werden. Manchmal täuscht sich der Mob in der Lage der Nation und geht zu früh auf die Straßen und die Macht demonstriert ihnen eindrucksvoll und brutal dass sie noch nicht bereit ist zu gehen.
Die Wahrheit ist, dass es in der Natur der Sache liegt, das Dinge sich unentwegt verändern. Egal ob Recht oder Unrecht. Alles ist ein Schwellzustand zum nächsten. Innerlich oder äußerlich, oder beides. Gleitend, oder schlagartig.
Und der Mensch? Ist ein Herdentier und hat gewisse Instinkte die im sagen: Hier stimmt was nicht. Und so spürt der Mob in letzter Sekunde, dass es an der Zeit ist auf die Straße zu gehen. Nicht vorher, sondern nachher. Nicht weil es reicht! Sondern weil es jetzt weniger schwere Konsequenzen für den Einzelnen hat als vorher. Weil es auf der Kippe steht. Wenn der Mob losrennt, sind die Seile meistens schon gelöst, ist die Burgbrücke meist schon längst herunter gelassen. Ferngelenkt? Vielleicht. Aber bevor wir Verschwörungstheoretikern in die Hände spielen, bleiben wir am Boden der Tatsachen: Klar ist die Masse steuerbar. Beweise dafür gibt es genug in der Geschichte. Aber nicht von Einzelnen, sondern von der Zeit, dem Zeitgeist, genauer gesagt. Ja und dem sind auch die sogenannten "Mächtigen" unterworfen.
Die traurige Wahrheit ist, dass ein Einzelner mutig sein kann, klug sein kann, weise sein kann, all das Halbgöttliche sein kann, was die Philosophie ihm zuschreibt, aber die Masse an Menschen hat selbst über weite Entfernungen einen primitiven Horden-Instinkt, der unablässig in ihrem Unterbewusstsein mitarbeitet, eine tickende Zeitbombe darstellt. Und genau hier kommt das Muster des Medizinmannes, des Klassensprechers, des Gruppenleiters, des Politikers ins Spiel. Sie sind Schlichter, Diplomaten, Blitzableiter, Sprecher, Mediatoren, Verhandlungsübermittler und balancieren die Interessen der sich sonst aufreibenden Parteien.
Aber genau weil der Mensch ist wie er ist, weiß er auch im Alltag all das nicht mehr, auch nicht wie Geschichte geschrieben wurde, glaubt im Alltäglichen an seine Vernunft und an sein Einschätzungsvermögen, will eine Stimme. Der Traum von der Demokratie ist geboren. Der Individualist ist real. Die westliche Welt hat im Kontext der Zeit und im Verhältnis zum Wesen des Herdentiers Mensch etwas fast Unglaubliches erreicht: Die perfekte Illusion eines Individuums. Prangere ich hier etwas an? Nein. Es ist vielleicht nicht ehrlich, aber es ist genial. Es ist vielleicht die einzige Möglichkeit, das Bedürfnis des Menschen jemand zu sein und eine Stimme zu haben, und die verschiedenen Interessen der großen sich sonst aufreibenden Menschenrotten irgendwie halbwegs in Einklang zu bringen.
Ein Politiker ist hier ein Grashalm zwischen Mühlensteinen, eine Leinwand auf die vieles wenn manchmal nicht sogar alles projiziert wird, was unerklärlich ist. Er ist in der Demokratie das, was im Mittelalter der Bischof war. Ein Vermittler zwischen Schicksal und Mensch. Und der Mensch braucht das Gefühl, dass etwas in seiner Macht liegt. Und wenn schon nicht in seiner ganz eigenen, dann wenigsten in der seines Sprechers. Dem der mit Gott spricht, dem der mit den großen anderen Politikern aushandelt wie es weiter geht.
Politiker müssen all das darstellen, abbilden, berücksichtigen, schlichten, Hoffnung machen, das System am Laufen halten, denn sie wissen so gut wie du und ich, ändern tut sich alles, aber wann, entscheidet niemand allein. Und auch kein Mob. Es ändert sich einfach, wenn es sich ändert. Und so füllen wir verzweifelt die Leinwände namens Politik mit Hoffnung, Wut, Zweifel, Angst, und die Presse fungiert als Dramaturg, als Schnittassistent, der das Ganze mit Musik unterlegt.
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