Schaut man in die Buchläden und blendet mal den Fakt aus, dass #Bücher derzeit einen grundsätzlichen Überlebenskampf führen. Und betrachtet nur die Verhältnisse zwischen den Genres in den Regalen. Und erinnert sich an die eigene Schulzeit mit klassischen Gedichten als permanente Pflichtlektüre. Dann könnte man zu der Frage kommen: Wie wichtig ist #Lyrik heute eigentlich überhaupt noch? Verleger, Buchhändler und Leser - so hat man den Eindruck - scheinen ihr, im Gegensatz zu anderen Genres wie Kriminalromane, heute zunehmend nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Zumindest hätte man in den letzten Jahren zu diesem Schluss kommen können.
Aber der Schein trügt. Da scheint sich nicht nur wieder etwas mehr zu regen. Sondern das konnte man auch, wenn man genau hinsah, weder heute noch vor ein paar Jahren so sagen. Es gab und gibt immer wieder neue Autoren zeitgenössischer Lyrik. In diesem Jahr gewann erstmals ein Lyriker den Leipziger Buchpreis: Jan Wagner. Er erhielt die renommierte Auszeichnung in der Kategorie Belletristik für seinen Lyrikband "Regentonnenvariationen" und setzte sich damit gegen die ausschließlich Prosa schreibende Konkurrenz durch. Wenn das kein Zeichen für (neues) Interesse an Lyrik ist. Derzeit ist der Lyrik Band "Wir können alles sein, Baby" von Julia Engelmann (bekannt geworden über YouTube mit ihren Poetry Slam Auftritten) auf Platz 1 der Bestsellerliste für Lyrik. Die gesammelten Werke von Goethe sind auf Platz 6.
Auch wenn Lyrik einen eher historisch und verstaubt anmutenden Ruf genießt, in der man ihre vermeintliche Eingeengtheit als nicht mehr zeitgemäß empfinden wollte, ist sie in der modernen Welt des 21. Jahrhunderts stärker vertreten als viele glauben. Sie scheint nicht nur in ihrer Anwendung vielfältiger geworden zu sein und ist nicht mehr nur eine vornehme Dichtkunstform mit Vertretern und Lesern im höheren Bildungsbürgertum sondern sie ist mehr in die Mitte des Lebens gerückt und somit zurück zu ihrem Ursprung. Aber dazu später mehr.
Viele große Theatermacher der letzten Jahrzehnte bedienten sich diesem Stil des Schreibens und dehnten ihn auf spannende Weise. Und die junge nachwachsende "Digi-Nation" hat sie auch unlängst für sich (wieder) entdeckt. Da gibt es eine Vielzahl von Lyrik-Foren im #Internet und der immer beliebter werdende Dichterwettstreit, der Poetry Slam, der Ende der 1980er Jahre in Chicago entstand und sich in den 1990ern in der ganzen Welt verbreitete, hat in Deutschland die zweitgrößte "Slam-Szene" nach der Englischsprachigen hervorgebracht. Und auch in der deutschen Musik-Szene scheint die Lyrik neu belebt, besonders der deutschsprachige Hip Hop, mit seinen Untergenres Conscious-Rap und Emo-Rap, hat die Lyrik fernab von Teegebäck am Sonntag interessant gemacht. Hier wird Lyrik im Grunde in seiner Ursprungsform, nämlich begleitend zu #Musik vorgetragen. Denn Lyrik ist, wie ihr Name verrät und wie bereits vorher angedeutet, eine Gattung der Literatur, die dem Lied und der Musik nahe steht. Und wie so oft, gehen auch die Ursprünge der Lyrik (die zum Spiel der "Lyra" gehörende Dichtung in Versform) auf die griechische Antike zurück.
Aber Schluss mit der Lehrstunde: Die Frage bleibt berechtigt. Gibt es Lyrik im klassischen Sinne im Breitband des Literaturangebots heute in der Form überhaupt noch? Man hat nicht den Eindruck. Gibt es eine nennenswerte Vielzahl zeitgenössischer Autoren und Gedichtbände in den Buchhandlungen heute noch zu kaufen? Der auf den ersten Blick traurig anmutende Fakt ist: Gedichte machen im Buchhandel nur etwa 1% des Belletristik-Umsatzes aus. Das ist praktisch Nichts. Wie kann es sein, dass der Buchmarkt da so hart an der Realität vorbei schrammt?
Verlagsanteil 1%. Und doch sprechen wir von einer Szene? Ja. Diese Szene ist klein aber stetig und derzeit im Wachstum. Ich spreche auch von Verlegern. Sie besteht eher aus kleinen Verlagen wie "Kookbooks" oder dem "Gutleut" Verlag, die auch mehr als nur Verlagsarbeit leisten, in dem sie gleichzeitig ein Netzwerk und eine Plattform darstellen. Aber auch klassische Verlage entdecken dieses Genre für sich und ihre Leser wieder neu. Nur muss man dafür heute mehr tun. Denn einfach nur ein Gedichtband drucken, dass funktioniert heute nicht mehr. Die Verlage müssen sich gleichzeitig ihr Publikum schaffen und einen Rahmen für Veranstaltungen bieten. Aber das betrifft heute letzten Endes jedes Genre. Das hat sich nicht nur für Lyrik geändert.
Klar ist: Größere Verlage wie der Suhrkamp Verlag werden wohl auf solche Züge erst wieder auf springen, wenn sie merkbar ins Rollen geraten sind, da verhält sich der Buchmarkt leider nicht anders als der Musikmarkt oder jeder andere Markt. Innovation oder schnelles Reagieren fällt den Großen schwer. Liegt wohl in der Physik. Sie sehen den letzten großen Lyrik-Erfolg eines deutschsprachigen Dichters im Ausland Jahrzehnte zurück, in den 1970er Jahren mit Hans Magnus Enzensberger und seiner politischen Lyrik, so kommt es mir vor. Aber das gilt nicht flächendenkend. Der Hanser-Verlag z.B. hingegen freut sich aufrichtig, wenn im Jahr zwei Verträge für Gedichtbände gemacht werden können. Friederike Barakat von der Auslandsrechte-Abteilung sagt: „Im Prinzip ist jeder Lizenzverkaufsvertrag für einen Gedichtband, der dann auch erscheint, ein Erfolg." Das ist vielleicht keine Ode auf Lyrik, aber es klingt nach gewünschtem Optimismus.
Dabei ist das Potenzial von Lyrik unabhängig von ihrem künstlerischen nicht anzweifelbaren Wert auch für das "Geschäft" mit der Literatur nicht zu unterschätzen: Das #Gedicht "Stufen" von Hermann Hesse (1941) wurde in über sechzig Sprachen übersetzt und ist damit weltweit wahrscheinlich das erfolgreichste deutsche Gedicht. Trotzdem herrscht die Meinung vor: Zeitgenössische Lyriker haben es hierzulande eher schwer. Das liege aber eher am mangelnden Glauben an dessen Potenzial in einer Welt die von Marktwirtschaft bestimmt wird als an den nicht übersehbaren Tendenzen hin zur Lyrik, so die Optimisten. Denn trotzdem sprechen wir von einer lebendigen Lyrik-Szene. Diese ist zwar vergleichsweise kleiner als eine Harry Potter Party, aber sie existiert. Und sie ist zuverlässig. Eine 2000er Auflage ist für ein Lyrikband heute zwar schon ein Bestseller, wo die Auflagenzahlen bei Bestseller-Romanen erst bei 500.000 bis zu einer Million losgehen, aber es gibt mehr gut geschriebene Krimis, die im Nirvana der Masse untergehen und bei Lesern auf Grund des Überangebots komplett untergehen und übergangen werden, als gut geschriebene Lyrikbände, denen solch Schicksal heute viel seltener zu Teil wird, weil sie von ihren Lesern in der Not mangelndem Angebots sofort und gierig verschlungen werden. Also kann man wenn man marktwirtschaftlich geschickt denkt, damit durchaus ein Verlag aufbauen und sich einer treuen Lesergemeinde erfreuen.
Nun zum idealistischen Part: In der Lyrik wie in jeder anderen Dichtung sollte die Frage aber gar nicht sein, wie hoch die Auflage oder wie zuverlässig die Nachfrage ist, zumal Lyrikbänder auch gern mal als nettes Geschenk des Nachbarn oder als Symbol der eigenen Belesenheit ungelesen im heimischen Bücherregal landen und Lyrik viel mehr mit dem Wort Performance, als mit Lesedichtung zu tun hat. Sondern viel wichtiger wäre die Frage, wie stark bleibt sie dem Leser vergleichsweise im Bewusstsein? Und da wird es erst richtig interessant. Im Vergleich zu anderer Literatur ist Lyrik wohl nach Meinung vieler Kultur- und Sozialwissenschaftler nachweislich prägender. Nicht umsonst gab es früher bestimmte Regeln des Zusammenlebens oder der Tier- und Pflanzenkunde bei der Ernte in Versform. Nicht ohne Grund hat die Werbeindustrie dieses Potenzial unlängst für sich ausgeschlachtet. Reime aus der Werbung sind (leider!) vielen Kindern allzu bekannt und man hörte sie zu den großen Zeiten des Fernsehens sogar auf Spielplätzen wiederhallen.
Also funktioniert Lyrik vielleicht eben vor allem in ihrer Nähe zum Menschen, am Menschen, von Mensch zu Mensch und nicht wie der Roman oder der Film vorrangig durch ein zu betrachtendes Abbild, das Abtauchen, das Entfernen des Menschen von der Realität in eine andere Welt? Und was ist mit versförmigen Weisheiten oder Aphorismen? Auch Philosophisches was der Allgemeinheit bekannt ist, war durch seine Versform wahrscheinlich eindringlicher. Vielleicht kann Lyrik deshalb heute nicht über den klassischen Markt funktionieren? Zumindest nicht bei derer werbeähnlichen Verbreitung.
Da muss man, so glauben einige Anhänger, andere Wege gehen. Festivals, Foren, Treffen, Lesungen, Dichter die aus anderen Sprachen übersetzen. In diesem Sinne lädt zum Beispiel die "Literaturwerkstatt" jährlich internationale und deutschsprachige Dichterinnen und Dichter nach Berlin ein, um im Rahmen der Veranstaltungsreihe VERSschmuggel Gedichte über die Sprachgrenze zu bringen. Und darauf folgend ist ein merkliches Interesse zu verspüren, so sagen viele Initiatoren, sich das dann auch noch einmal in das heimische Bücherregal zu stellen. Aber bei genauerer Betrachtung des heutigen Buchmarktes hieße das, dass sich Lyrik dann auch nicht sonderlich von anderen Literatur-Genres unterscheide, wenn es darum geht auf verschiedene neue Weisen Kaufanreize zu schaffen. Wo wir wieder beim vorherigen Thema wären. Aktive virale Vermarktung ist kein Einzelfall mehr.
Also heißt das jetzt im Klartext, dass ein langfristiges neues Interesse an Gedichten unlängst wieder erwacht ist? Ja. Aber warum ist zeitgenössische Lyrik dann weniger bekannt als die Klassiker? Muss man dazu vielleicht fragen: Was bedeutete ein Gedicht damals, und was bedeutet es heute? Und welche Wichtigkeit muss heute der Reimform wenn überhaupt beigemessen werden?
Früher war das mit den Gedichten ja ganz ganz anders, würden Nostalgiker jetzt sagen. Die kennt doch noch jeder! Da fallen einem gleich große Namen ein wie Goethe, Schiller, Heine, Hesse, Celan, Benn, Brecht und viele andere. Und klar, durch die Schulzeit, viele deutsche Dichter dabei. Vor 200 Jahren veröffentlichte die französische Autorin Madame de Staël ihr #Buch De l'Allemagne, in dem sie ihre bis heute als Slogan bekannte Auffassung formulierte, bei den Deutschen handele es sich um ein „Volk der Dichter und Denker". Heute wird das parodiert und höhnisch umgewandelt in "Das Land der toten Dichter und Denker". Aber seien wir doch mal ehrlich: hat das wirklich etwas mit Früher zu tun? Und wie wurden diese Gedichte Bestandteil der Allgemeinbildung? Und wenn inwiefern ist das überhaupt relevant? Denn nur weil es Allgemeinbildung ist, ist es nicht automatisch Beleg für irgendeine Frage zur Lyrik. Denn das dürfte zum Einen sicherlich immer am vorherrschenden Bildungssystem gelegen haben, welches in Deutschland z.B. auch zeitweise einen starken Literaturanteil im Deutschunterricht hatte und da bietet sich ein Gedicht nun mal als Unterrichtsgegenstand an. Zum anderen liegt es daran, dass wir historisch dazu neigen Dinge zu verklären, oder umgekehrt betrachtet: dazu neigen Dinge der Gegenwart nüchterner zu betrachten und ihren wahren Wert oft erst später, also im Nachhinein, wieder zu erkennen.
Zu der Reimfrage: Reime lesen sich gut, und vor allem hören sich angenehm. Das hat ja in unseren Tagen, wie bereits erwähnt, die Werbeindustrie unlängst für sich entdeckt. So reimt sich ein Slogan an den nächsten. "Haribo macht Kinder froh", "Mit Spee wie jeder weiß - Sauberkeit zum kleinsten Preis" usw. Das lässt aber auch die naheliegende Vermutung zu, dass die Werbeindustrie eventuell einen nicht unbeachtlichen Beitrag dazu geleistet hat, dass Lyrik ein so "abgedroschenes" Image bekommen hat. Dass wir Worten unterbewusst tendenziell wohl eher Aufmerksamkeit oder Annahmebereitschaft schenken wenn sie gereimt sind, scheint zumindest in der Werbeindustrie (ganz im Gegenteil zum heutigen Buchmarkt) eine akzeptierte Tatsache und ist leicht zu belegen: Denn nichts ist schwieriger im Kopf einzuordnen als die unbeliebten und daher ihren Namen entsprechenden "Ungereimtheiten".
Aber gerade die Ungereimtheiten sind es, die heute die Philosophen umtreibt. Und "Morgenstund hat Gold im Mund" reimt sich zwar wunderbar, aber stimmt das heute noch? Forscher schlugen kürzlich vor, dass man den Schulstart doch eine Stunde später beginnen sollte, da viele Schüler gar nicht richtig wach sind in der ersten Stunde. "Somit würde man den Schulbeginn endlich dem biologischen Rhythmus der Kinder anpassen." Soviel zur Wahrheit in Reimform.
Aber, um der Frage weiter auf den Grund zu gehen, das ist eigentlich keine existenzielle Frage der Lyrik mehr, höchstens eine der Werbeindustrie. Denn mit dem Reimen hat die neue Lyrik unlängst ihre ganz eigenen befreienden Auseinandersetzungen und Entfesselungen von diesem Regelwerk begonnen. So heißt es heute oft: Reimen sei Reklame, Reimen sei die Sprache der Propaganda, Reimen sei die Sprache mit der man uns belehren, manipulieren will. Das will die neue, junge Lyrik nicht mehr und bleibt daher lieber tendenziell ungereimt und offen. Mit dem Effekt, dass man sich die Texte nicht so gut merken kann und der Bezug zur Lyrik als Begriff schwammig wird. Und so lässt sich zeitgenössische Lyrik leider auch nur schwer zitieren und bleibt bei den Menschen einfach nicht so gut im Gedächtnis. Da bin ich froh über ein paar sanftere Töne: "Nicht alles was mal gut war muss heute schlecht sein", sagen neutraler darüber denkende Lyriker zu der Frage und lassen sich weder von damals noch von heute vorschreiben, wann man reimen darf und wann nicht.
Also können wir zusammenfassen, dass das Reimen wie alles andere auf der Welt hin und wieder zwar aus der Mode geraten ist, die Lust am künstlerischen Sprachgebrauch des Genres "Lyrik" aber nicht. Man muss sich nur auf die Texte einlassen und ihnen mit einem gewissen Wohlwollen und Interesse begegnen. Aber das setzt ja Literatur in jeder ihrer Fassetten voraus, nicht wahr? Inwieweit da Phänomene wie Julia Engelmann ein wirkliches Indiz für eine neue Lyrik-Generation sind, bleibt abzuwarten, denn schaut man sich ihr Themenspektrum und Zielpublikum an, scheint irgendwie alles doch wieder nur ein neuer Song zum alten Lied: Wie die Jugend lernt mit der Liebe und dem Leben in der Zukunft umzugehen. Ein Thema, dass man getrost als Leitmotiv der Generation Pop-Musik, Bravo, MTV und der Industrie dahinter zuschreiben darf. Nach (zeitloser) Literatur klingt das noch nicht.
Am Schluss noch ein Zitat des diesjährigen Gewinners vom Leipziger Buchpreis, Jan Wagner: "Ein gutes Gedicht lädt dazu ein, die Dinge neu zu sehen und neu in Sprache zu fassen und diese neue Sprachgefasstheit des Gedichts lädt dazu ein, sie neu zu sehen und damit fängt auch im Grunde ein neues Denken über die Welt an und über das was uns umgibt." Schöne Worte. Aber ganz unrecht haben die Reimekritiker dann wohl nicht, wenn sie dem Reim manipulative Fähigkeiten unterstellen.
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