Einem jungen Mann verleiht die Unbedarftheit der Kindheit eine göttliche Anziehungskraft - Im Bad setzt er den Fuß auf einen Schemel, um ihn abzutrocknen, sieht in den Spiegel und entdeckt das genaue Abbild einer bekannten Statue. Als er versucht, die Bewegung zu wiederholen, wirkt sie plötzlich grotesk und komisch..., beschreibt es Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz "Über das Marionettentheater".
Kunst ist ein Begriff, der vermutlich jedem, der Kunst macht, auf den Magen schlägt. Denn Kunst ist nicht das Gegenteil von Leben, seine Sublimierung oder sein Feinschliff. Kunst ist viel simpler. Ihr Ursprung ist der unbändige Wunsch nach der Überwindung des eigenen Ichs, des Schmerzes, der Angst und der Erbärmlichkeit des Menschlichen. Nicht das Große ist es, das uns bewegt, uns zu entäußern, sondern das Kleine. Und manchmal, wenn wir ganz still und klein werden und uns für einen winzigen Moment vergessen, dann gelingt der große Wurf. Dann entsteht sie, diese vielgeliebte Kunst.
Was Kleist mit seiner Geschichte verdeutlichen will, ist, dass das Göttliche im Unbewussten liegt. Sobald wir versuchen, uns selbst zu überflügeln, verlieren wir den Zauber und werden stumpf. Es ist eine alte Geschichte, die ihren Ursprung in der Bibel hat. Es ist die Vertreibung aus dem Paradies (Garten Eden), der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis, der Kunst für uns Menschen überhaupt wieder nötig macht. Denn was uns alle schmerzt, das ist die Bewusstwerdung der eigenen Unzulänglichkeit, der Sterblichkeit und der inneren und äußeren Grenzen.
Kleists Ansatz ist einfach und dabei wahnsinnig faszinierend. Er beschreibt sein Gespräch mit einem Tänzer, der auf dem Marktplatz die Marionetten studiert. Die Puppen, so sagt der Tänzer, besitzen eine Grazie, die niemals ein Mensch erreichen kann, denn sie haben kein Bewusstsein und zieren sich nicht. Sie haben kein Ich, das ihnen im Wege steht, und die Schwerkraft fesselt sie nicht ans Irdische.
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was die Schönheit der Puppen ausmacht. Aber meine Bühnenarbeit einerseits und meine Schwierigkeiten mit den Dingen des Alltags andererseits haben mich irgendwann begreifen lassen, was es heißt, die Augen zu schließen und nichts mehr erzwingen zu wollen. Kein Glück, keine Liebe, keine Schönheit und keine Kreativität. Es ist ein Weg, der für die einen leichter und für die anderen schwerer ist. Für mich ist er schwer. Und ich habe nie ganz verstanden, wie ich diesen Zustand überwinden soll, in dem wir alle gefangen sind. Diesen Zustand zwischen Puppe und Puppenspieler, das Hängen in den Seilen. Es gibt nur zwei Auswege, nämlich kein Bewusstsein zu haben, oder ein unendliches. Wie eine Holzpuppe zu sein, oder wie Gott. Das ist es, was ich aus Kleists Text heraus gelesen habe und beides scheint mir gleichermaßen unmöglich. Wie kann ich ertragen, dass jeder Sinn, den ich mir gebe, eine Illusion sein könnte und dass keine Illusionen zu haben zum Stillstand führt? Wir leben in einer Welt, die Illusionen wie Brot verkauft, und das Fatale ist, dass es keine echte Alternative zu geben scheint. Wir sind aus dem Paradies vertrieben. Diese Metapher ist so treffend wie kaum eine andere. Wir haben die Eitelkeit für uns entdeckt wie der Junge am Holzschemel. Und jetzt bohrt uns die Scham ein Loch in die Seele.
Ich weiß nicht, ob ich mich vielleicht zu allgemein ausdrücke, aber der Konflikt mit dem Außen ist ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Denkens schlängelt, der die Literatur immer weiter treibt und der uns entgegen scheint aus jedem durchlässigen Gesicht, das uns auf der Straße begegnet. Es ist eine große Suche nach der verlorenen Unschuld, die die Menschheit antreibt.
"Aber das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns", so lässt Kleist den Tänzer sagen, "Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist." Diese Sätze haben mich lange beschäftigt. Mach dich auf den Weg, habe ich interpretiert, und glaube an die Bewegung. Geh nicht gegen die Angst, sondern mit der Angst.
Die Welt ist rund und Gott und die Holzpuppe sind gleichermaßen für uns verloren, wie sie auch wieder aufzufinden sind. Kleist benennt es sogar, dieses "letzte Kapitel in der Geschichte der Menschheit." Aber das überlasse ich jedem selbst zu lesen. Es ist ein einfaches Rezept, aber vielleicht ist es gerade deswegen so schwer. Die unmittelbare Aufgabe für den Künstler ist deswegen vielleicht diese: Trost zu suchen. Für sich und für andere, so wie eine Mutter ihr Kind in den Arm nimmt, wenn es abends weint, und so, wie wir nachts die Straßenlaternen leuchten lassen. Und manchmal entsteht dann, aus dem Einfachen, der Funke des Göttlichen.
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