Schlingensief ist tot - Eine Schreckensmeldung, von vor nicht weniger als 1 - 2 Stunden: Bei allen Kontroversen und Debatten um einen der umstrittensten Theatermänner dieser Zeit, harter Kritik die laut wurde im Umgang mit Schauspielern und Kollegen, aber auch viel Positivem, was ich mit ihm verbinde, war die Nachricht ein großer Schock für mich. Als mein Telefon klingelte und ein Kollege sich beim Zug an seiner Zigarette räusperte, erwartete ich alles mögliche, aber nicht "..., ich weiß dass du ihn kanntest, aber nicht, wie gut du ihn kanntest, es war ja abzusehen, aber Schlingensief ist offiziell nicht mehr unter uns." War es die Nüchternheit hinter der sich mehr verbarg, die mich wie ein Schlag traf? Ich setze mich stumm auf den Boden und starrte die Wand an.
Ich kannte ihn nicht gut. Aber ich kannte ihn. Gearbeitet hatten wir nicht direkt zusammen, die Gelegenheit ergab sich nicht. Er machte aus der Volksbühne einen Zirkus, was nicht jeder mochte, aber er machte dem Boulevard-Kostüm-Theater auch den Garaus, was mich stets entzückte. Ich hatte noch keine Zeit es zu verarbeiten. Ich empfinde aufrichtige Trauer.
Bei allem was man aus den Nachrichten seit geraumer Weile wusste, über seinen Kampf gegen #Krebs, sein Buch, sein verändertes Aussehen durch die Chemotherapien, war es dennoch unvorstellbar für viele und auch für mich, dass so ein Temperamentsbündel wie Christoph Schlingensief tatsächlich EINFACH SO ... geht. ... Einfach weg ist.
Es gibt Menschen, die meinen es sei geheuchelt, wenn man darüber spricht. Ich weiß es nicht. Die Bedenken von Lesern solcher Nachworte schwanken oft zwischen Heuchelei und unnötigen Ressentiments. Beides setzt aber ein klares Kalkül voraus, welches das Gegenteil von dem ist was mich zu diesem Artikel treibt. Und vor allem: ER wollte darüber sprechen! So sehr ich es auch versuchte, es ging von Anfang an nicht an mir vorbei. Ich sah, wie ihm oft die Tränen in den Augen standen, wenn er sagte: "Das soll's gewesen sein? ... Nein!" So wie er, wollte auch ich es nicht akzeptieren. So wie ich ihn kannte, und das obwohl ich um alles wusste und unlängst betroffen war und zum Schluss besonders hellhörig wurde, als er die Ruhr-Triennale absagte, dachte ich dennoch: "Hah, ... da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen! Das letzte Wort hat immer noch Schlingensief!" Denn den Kampf hatten wir gemeinsam, deshalb war ich so optimistisch dass er bei ihm genauso ausginge.
"Der ist so frech, ..." dachte ich, "der zeigt selbst dem Krebs noch den Mittelfinger und lässt zur Strafe wiedermal ein paar nackte Schauspieler über die Bühne hopsen!" - Nun ja, ich mochte nicht alles was er machte. Und ich will jetzt auch nicht in diesem üblichen diplomatischen Trauerchor mitsingen, von Leuten, die meinen, sich zu solchen Anlässen immer durchweg positiv äußern zu müssen. Aber ich kannte ihn, ich kannte seine Arbeit, und hatte immer eine Meinung zu ihm. Und das ist schon viel in den heutigen Zeiten. Er war niemals belanglos. Was soll ich sagen, ich bin wirklich getroffen. In 2 Monaten wäre Christoph 50 geworden ...
Er machte mit Theater Politik, mit Politik Theater. Er zerstörte Theater. Er baute es wieder auf. Ob er wollte oder nicht. Er projizierte nicht nur auf die Bühne, sondern überall hin wo man ihn nur lies. Ja, er verbrauchte Schauspieler, doch die Schauspielzunft brauchte ihn. Performance Künstler, Enfant Terrible, modernes Genie, Provokateur. All solche und ähnliche Begriffe stehen da, wenn man nach Schlingensief sucht. Doch all das ist eine Projektion auf ihn, keine Projektion von ihm. Wenn man weitestgehend ehrlich sein will, kann man eh nur von sich aus sprechen.
Ok, ich habe ihm ein wenig übel genommen, dass er MEINE Volksbühnen-Kantine entweiht hat, den Ort meiner Kindheit, wo die alten Zigarre und Kabinett rauchenden und Whisky-trinkenden Schauspielmänner in schwarzen Hemden und alten Jeans nach den Proben im blauen Dunst der Kantine über den geplanten Umsturz in Berlin '89 diskutierten, wo alles nach Abschminke roch und die rauen tiefen Stimmen der sonoren Theaterdamen und Herren eine widerwillige Wärme in die Hinterbühne und die alten Holz-verkleideten und marmorisierten Seitengänge hauchten. Es war ein romantisches Geisterschloss. Gott wie ich es liebte. Es war ein eingespieltes altes Ensemble. Eine Zirkusfamilie. - Nur, die Zeit brauchte Antworten. Auch ich wusste das, sah die Inszenierungen und fühlte Etwas, was da fehlt. Die Zeit brauchte Antworten. Und die kamen unerbittlich. Und wie so oft, kam die Veränderung nicht langsam, sondern sie kam mit einem lauten Knall: mit Schlingensief.
Spiegel Online schreibt vor ein paar Stunden: "Schlingensief galt als einer der umstrittensten Vertreter des deutschsprachigen Kulturbetriebs, er war der wohl bekannteste Theaterprovokateur im deutschsprachigen Raum - und ist auch Menschen ein Begriff, die nicht regelmäßig Opernhäuser und Theater besuchen. Kritiker waren zuweilen uneins darüber, ob Schlingensief nur um der Provokation willen provoziere oder vielleicht doch zu den "letzten deutschen Moralisten" zählte. Oft und gerne überschritt er die Grenze vom Theater zur Politik - zum Beispiel als er auf der Kasseler #Documenta 1997 ein Plakat mit der Aufschrift "Tötet Helmut Kohl" präsentierte und von der Polizei vorübergehend festgenommen wurde."
Ja das war er. Umstritten. Aber das bedeutet, das die Menschen etwas zur Kenntnis nehmen. Ich nehme seinen Tod mit großen Bedauern zur Kenntnis. Schlingensief war sicherlich kein einfacher Mensch. Aber er war ein leidenschaftlicher Mensch. Und nicht nur DAS teilen wir: Denn da ich selbst in einem ähnlichen Krankheitsverlauf dem Tod vor 7 Jahren das Glück hatte noch ein Schnäppchen zu schlagen, ist das Gefühl, dass jemand Anderes GENAU DAS nicht geschafft hat, für mich hier zweifach schlimm vorzustellen.
Jetzt möchte ich am liebsten nur all die guten Worte stehen lassen und all die kritischen Worte zurück nehmen. Aber ich weiß, das hätte er nicht gewollt. So ist das nun mal in einer hitzigen Debatte. So ist das nun mal am Theater. Und so war auch er.
Schlingensief ist tot. Das Stück endet abrupt. Der Vorhang fällt. Das Publikum applaudiert nicht, es schaut betroffen und gelähmt auf den Vorhang. Ja, genau so war er. Und so hinterlässt er uns.
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