Zuweilen mit wenig verstecktem Unvertständnis beobachte ich die vorprogrammierte und vorhersehbare Empörung der sonst so Experimentierfreudigen und so brisant und aufgeschlossen gebliebenen modernen Theaterszene Berlins im Streit um die kommenden “großen” Veränderungen. Haben sie doch damals mit gleicher Wollust das Alte mit einer Brechstange ablösen wollen, stürzten die Berliner Bühnen mit Blutbeuteln, Wurfgeschossen aus Kotze und Eiter, spuckten auf die alten Bretter bei jedem zweiten Satz und erklärten das Alte (Theater) für tot mit dem Selbstverständnis, mit dem sich das Neue immer sein Recht erkämpft. Gemeint ist nicht der Stimmungswechsel Wowereit/Müller. Wer es noch nicht mitbekam: große Intendantenwechsel stehen bevor...
Ausgerechnet diese so “aufgeschlossenen” und experimentierfreudigen Theaterleute zeigen sich heute biderer denn je im Streit um die große Veränderung in der Theaterstadt. Da soll doch tatsächlich einer, der nicht aus der “Sippe” stammt von “AUSSEN” hier reingebracht werden und (wieder) alles umkrämpeln, “öffnen für Europa”. Die “neuen Alten” packt das kalte Grauen. “Der hat doch gar keine Ahnung von Theater!”. Die Rede ist von Chris Dercon, Castorfs Nachfolger an der Berliner #Volksbühne ab 2017. Nach einer angemessenen Reaktion von "kantig gebliebenen" und "experimentierfreudigen" Künstlern klingt das für mich aber nicht. Und wenn ich ehrlich sein soll: “Der hat doch gar keine Ahnung von Theater!”, klingt für mich erst einmal ziemlich interessant! Das kann ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Aber das wird nicht in Erwägung gezogen, wenn der eigene Stuhl wackelt. Vielleicht war es das, was Schlingensief mit dem Satz meinte: "Theater muss zerstört werden ..." .
Der neue Kulturstaatssekretär hat mit seinem Ruf nicht aus der Theaterlandschaft zu kommen und all das "einfach" zu “beschließen” wohl den Stein der Empörung ins Rollen gebracht. Am 27. Februar 2014 stellte ihn der damals noch Regierende Bürgermeister von Berlin Klaus Wowereit als neuen Kulturstaatssekretär des Landes #Berlin vor: Der mir noch aus Polydor und Motor Music Zeiten bekannte Tim Renner. Und im März 2014 wurde bekannt, dass dieser 2017 den Direktor der “Tate Gallery of Modern Art”, Chris Dercon, zum Intendanten der Volksbühne Berlin und Nachfolger von Frank Castorf machen wolle. Seitdem „steht der immer noch etwas metierfremde Kulturstaatssekretär unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck“, so heißt es, denn Berliner Intendanten, allen voran Claus Peymann, verfolgen die Entwicklung mit Misstrauen - so liest man sogar auf Wikipedia - weil befürchtet würde, dass die Absicht besteht, „ein Repertoire-Theater durch das neoliberale Modell eines von einem Kurator mit Einzelprojekten bespielten Angebots zu ersetzen“. Interessant dabei ist, dass keiner der Empörten die Personen, die sie da verschmähen wollen, wirklich zu kennen scheinen. Denn weder Renner noch Dercon sind auf das reduzierbar, was jüngst mit Ihrer "Metierfremdheit" einher kommuniziert wird.
Und vielleicht irre ich mich, aber ich kann als experimentierfreudig gebliebener #Künstler an den Sätzen “öffnen für Europa” oder „Repertoire-Theater durch das neoliberale Modell eines von einem Kurator mit Einzelprojekten bespielten Angebots“ erst einmal keine Gefahr für die Entwicklung von progressiver interessanter Kunst entdecken, aber sehr wohl für die sich warm gesessenen Klüngel, die einst die #Theater mit ähnlich modernen und provokanten Slogans erstürmten. Und das obwohl ich die Anmaßungen hier wirklich tendenziell unverschämt und vor allem auch als voreilig empfinde. Wer sich mit den Personen Dercon und Renner mal etwas mehr beschäftigt hat oder ihre Biografien im Ansatz etwas kennt, wird wissen, dass beide schon des Öfteren schwierige Aufgaben mit viel Esprit und einer Menge Mut angegangen sind und sich auch oft gegen das Establishment, wenn es nötig war, auf Kosten einer Bequemlichkeit gerichtet haben. Eigenschaften, die Peymann doch eigentlich sympathisch sein müssten.
Aber während ich viele Freundschaften zu Menschen Pflege, die zum Theater- und Fernsehklüngel gehören, ja geradezu da hinein geboren wurde, vielleicht sogar indirekt dazu gehöre, kann ich mich gegen den Gedanken aber nicht erwehren, dass dieser Klüngel auch sehr schnell seine "Wärme" verlieren kann, wenn man eben nicht dazu gehört, wenn man ihm etwas entgegenbringt, wie Tim Renner es gerade tut. Und genau darin liegt für mich - trotz vielleicht eigenem Nachteil dabei - der Ursprung einer bösen Ahnung begraben, die sie mit ihrem Verhalten für mich nur bestätigen. Nämlich dass es vielleicht sogar notwendig ist, genau das JETZT zu tun, was schon einmal getan wurde: radikale Veränderung. Um die Sippenwirtschaft aufzubrechen, um das neue Alte mit etwas Neuem abzulösen. Etwas Neues, was unlängst nichts vertreibt, was nicht selbst zuvor Etwas vertrieben hat.
Sicher, ich verstehe die Bedenken vieler gegenüber dem Neuen von Außen. Die Angst vor dem Verlust von lokalem Kolorit, vor dem Verlust von den besonderen Nuancen, die sich über die Zeit in der Ära entwickelten. Aber genau das ist das Problem an jeder Veränderung: sie wird heute und hat auch damals interessante Aspekte, die schon da waren verletzt, angekratzt, beschädigt. Damit mussten die Theaterleute damals auch leben, als Peymann und Castorf nach Berlin kamen. Jede Pflanze, die umgetopft wird, verliert Haarwurzeln und ein paar Blätter knicken ab. Ich erinnere aber mal nur daran, wie Benno Besson an die Volksbühne kam. 1969 war er künstlerischer Oberleiter und ab 1974 Intendant der Volksbühne Berlin. Ich erlebte ihn als Kind "life" aus den Seitenflügeln des Theaters. Dort inszenierte er Theaterfeste, in denen die Schauspieler sowohl auf der Bühne wie im Foyer ("Rameaus Neffe", R: Helmut Straßburger) und im Hof auftraten und engagierte junge Regisseure wie Manfred Karge und Matthias Langhoff. Er setzte sich für Heiner Müller ein. Ein für mich bis heute weit unterschätzter Theatermann. Die Empörung darüber dass Besson das Theater und vor allem das Foyer zu einem "Partyraum" mache, war groß. Als Castorf kam, ging es weiter mit der Empörung. "Schlingensief mache unter Castorf Theater zum Kasperle-Theater", hieß es. Heute betrauern wir Schlingensiefs Tot mit den Worten: "Einer der wichtigsten Figuren seiner Zeit ist gegangen". Nun geht auch diese Ära zu Ende. Und das Theater steht immer noch. Warum können wir uns nicht einfach darauf einigen, dass sie alle wichtige und große Persönlichkeiten waren und sind?
Kunst und Kultur muss, wie alles andere auch, immer in Bewegung bleiben und wir merken manchmal nicht, wie wir schnell, nach unserem Ruf für Veränderung, dann wenn diese eingetreten ist, nicht mehr bereit sind weiter zu gehen. Weil wir den “Biss” verloren haben und wir uns an diese damalige Veränderung "gewöhnt" haben. So weh es tut: Man muss sich eingestehen, dass man zu dem geworden ist, was man einst bekämpfte: Zu denen, die nun nur noch den Platz gegen die Veränderung verteidigen. Und noch erschreckender mag es für den einen oder anderen sein, dass es dafür ein für sie einst so bedrohliches Adjektiv gibt: Konservativ. Welches ich im Übrigen weniger negativ konnotiert empfinde als jene "Revoluzzer" von damals. Denn ich stimme durchaus zu, dass es immer etwas gibt, was es lohnt zu erhalten und mit Respekt zu behandeln.
Aber ich warne davor jetzt alles schwarz zu malen und die neue Richtung zu bekämpfen und öffentliche Schlammschlachten zu starten oder gar den Aufruhr dafür zu nutzen, sich selbst aufzuspielen, um vermeintlich mit dem alten Klüngel zu sympathisieren oder Aufmerksamkeit und Wohlwollen auf sich zu lenken, in dem man fleißig mit der Empörung mitschwingt. Nicht ohne Grund halten sich einige wichtige Stimmen zu dem Thema zurück. Denn Vieles wissen wir jetzt noch nicht, und sich dahin gehend empört zu äußern, kann mehr Schaden als Nutzen bringen. Und der Leidtragende wird am Ende der Kunstbetrieb sein. Jede Intendanz hatte in ihrer Zeit schwere Aufgaben zu meistern und ich möchte mit Stolz behaupten, dass alle Häuser in Berlin inklusive ihrer Intendanten, Regisseure und Schauspieler und der gesamten Belegschaften rückblickend sehr viele große Aufgaben mit Bravur gemeistert haben und das wird sich auch nicht ändern. Dercon wird, wie alle seine Vorgänger davor, die Gemüter mit Vielem positiv überraschen, und ich höre die Echos der zukünftigen Lobeshymnen jetzt schon in meinen Ohren.
Wenn sich die Aufregung gelegt hat, wird man die intellektuelle Nähe zwischen Chris Dercon und Frank Castorf erkennen, da bin ich mir sicher. Und wer Tim Renner unterschätzt, weiß nicht was er bereits seit Jahrzehnten in der Musiklandschaft geleistet hat und sich auch nie davor gedrückt hat, sich mächtigen Strukturen mit Mut und neuen Sichtweisen entgegenzutellen.
Ich bleibe mir selbst treu, wie ich es schon damals war, in dem ich - wieder einmal - entgegen der allgemeinen Stimmung neuen Bewegungen gegenüber aufgeschlossen bleibe. Bis ich merke, dass es nicht (mehr) funktioniert und Etwas Neues her muss. Und eines ist gewiss: dieser Zeitpunkt wird kommen. Denn er kommt immer. Und wir alle werden dem (immer wieder) zum Opfer fallen. So spürt man sich aber zumindest noch. Und der Geist bleibt wach und die Kunst lebendig.
"Der König ist tot. Es lebe der König." (Macbeth)
Comments
Woho, ich hoff das dieser Artikel in den richtigen Kreisen die Runde machen wird :) Saftige Abreibung! Und jedes Wort ist wahr!
Also ich finde den ganzen Trubel wenn ich mal ehrlich bin eigentlich ganz unterhaltsam und es hat auch noch einen positiven Nebeneffekt: Menschen die in ihrem ganzen Leben noch nie in der Volksbühne waren, geschweige denn überhaupt schon mal ein Theater von Innen gesehen haben, regen sich am Stammtisch über den neuen Kulturstaatssekretär auf und diskutieren über die Kompetenz des neuen Intendanten, wo sie vor ein paar Tagen noch gar nicht wussten, was ein Intendant überhaupt macht, vielleicht wissen sie es noch immer nicht. Ich finde es auf jeden Fall gut, so bekommt die Szene mal wieder Aufmerksamkeit, die ja schon länger mit Nicht-so-auffälligen-herausragenden-Inszenierungen glänzt ;)
Stimmt was ich im Ballet Journal aufgeschnappt habe? Das Tim Renner geht? http://ballett-journal.de/tag/tim-renner
Auch wenn Noch-Intendant Castrof Dercon nicht in "sein Haus" lässt und nur über den Anwalt kommuniziert wird, ist Dercon williger den je. "Ich will zur Volksbühne." Arabisch will er lernen, ob er eine gemeinsame Sprache mit den "Volksbühnlern" findet ist noch abzuwarten... http://www.rbb-online.de/kultur/beitrag/2017/01/chris-dercon-volksbuehn…
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