Mr. Sinnlos und die Sonnenfinsternis

Gabor Munier
Geschrieben von:

Gabor Munièr

Autor, freier Kolumnist, Essayist

Ein Erlebnisprotokoll

Mr. Sinnlos und die Sonnenfinsternis

Planeten und Trabanten

Preview Abbildung von Sonnenfinsternis 2011 01 04 Jena

"Sonnenfinsternis 2011 - Jena". 4 Jahre zuvor, aber das selbe Szenario: Partielle Sonnenfinsternis - am 4. Januar 2011 in Jena. | photo by Spellsinger | provided by Wikimedia Commons | © CC BY-SA 3.0

Preview Abbildung von Baenken am Richardplatz

"Nachmittags am Richardplatz - Rixdorf". Am Richardplatz in Neukölln ist noch ein Hauch von Ursprung zu spüren. Zwischen der historischen Schmiede und dem Kutschen- und Fuhrwerkunternehmen kann die Großstadtseele entspannen. Wer weiß wie lange noch? | photo by  Autor & Filmemacher Sebastian Ugovsky | © All rights reserved

Preview berlin-richardplatz-laterne.jpg

"Berlin Richardplatz Laterne". Im Rahmen des Umweltentlastungsprojekts 700 LED-Aufsatzleuchten für Berlin-Neukölln werden alle Gasaufsatzleuchten auf Elektrobetrieb umgerüstet, um bei Beibehaltung des städtebaulichen Charakters eine “flächendeckende und energiesparende Erneuerung der Straßen- und Platzbeleuchtung” zu realisieren. | photo by interscenar.io | © 2015 All rights reserved

Preview Abbildung von Seitenstrasse am Richardplatz

"Oase klassischer Filmkulissen". In Rixdorf am Richardplatz scheint die Zeit etwas langsamer zu vergehen. Trotzdem ist der Bezirk stark im Wandel, da das zunehmende Interesse von Neuberlinern und Immobilienmaklern das so typische Bild von Rixdorf verändert. | photo by  Autor & Filmemacher Sebastian Ugovsky | © All rights reserved

Preview Abbildung von Ladenecke am Richardplatz

"Ecke am Richardplatz Höhe Richardstr". Der Rixdorfer Kiez in Neukölln verbindet Tradition und Moderne: Ein altes Böhmisches Dorf unter Denkmalschutz ist dort ebenso zu finden wie kulturelle Vielfalt aus aller Herren Länder. Am Richardplatz verbringt ein bunt gemischtes Publikum seine freien Nachmittage. © 2015 All rights reserved | photo by interscenar.io

Preview Abbildung von Kreidemalerei auf Strasse

"Richardplatz Kommunikation". Noch bietet der Richardplatz und seine Umgebung Platz für freien Austausch und Kommunikation. | photo by interscenar.io | © 2015 All rights reserved

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Lesedauer: 7 mins

Es ist sonnig, sehr sonnig, und das obwohl die Sonne wohl schon zu 5% vom Mond bedeckt sei. Für das bloße Auge wäre das kaum erkennbar, würde man in die Sonne schauen. Auffällig nur, sollte man doch einmal versehentlich in die Richtung blicken, ist, wie stark und spitz das Licht der Sonne auf Grund der allmählichen Verdeckung wirkt. Es heißt, es soll sehr schädlich sein zu diesem Zeitpunkt in die Sonne zu schauen. Und wie es nun mal so ist bei kleinen Kindern: Der Reflex wenn das thematisiert wird, ist oft sehr ambivalent.

Inwiefern das Gefühl einer verstärkten Sonnenstrahlung durch den Umstand gefördert wird, dass ich die 3. Nacht durchgehend wach bin, weiß ich nicht, aber zumindest weiß ich, dass es sicherlich die Lichtempfindlichkeit erhöht, übermüdet draußen zu sein. So mache ich mich also übermüdet auf den Weg zum Richardplatz in Berlin Neukölln und muss feststellen, dass das in Berlin korrekter Weise als partielle Sonnenfinsternis zu bezeichnende Ereignis im Verhältnis zur Beleuchtung in der Presse dem gleichen Phänomen wie die meisten Tagesthemen zu Opfer gefallen ist: es wird kaum etwas so heiß gegessen, wie es in der Presse gekocht wird.

Ich erwartete nach den jüngsten Berichten in Zeitungen wahre Völkerströme auf den Straßen, Kinder die mit Sonnenschutzbrillen spielend umher rennen, Erwachsene, die sich um getönte Teleskope scharen und Fleisch auf den Grill werfen, eine leicht lodernde Erwartungsstimmung und ein Raunen auf den Straßen, immer wieder durchbrochen von einem „Da schau mal, schon wieder ein bisschen ...“ und den Blicken vorbeilaufender Menschen, die immer wieder in die Richtung nach oben schauen, wie in einschlägig bekannten Endzeitfilmen, wenn die UFOs landen oder Godzilla um die Ecke kommt.

Nichts von all dem. Beim Betreten der Straßen werde ich von einer erschreckenden Banalität des Alltags beinahe herausgerissen aus meinen Sience-Fiction Fantasien und Weltraumabenteuern kollidierender Planeten: „Tschuljung! Könnse ma ...“ werde ich beim Mustern des Lichtes an den Hauswänden von einer vorbei eilenden Person gebeten Platz zu machen. Ich halte innerlich weiter energisch an meinem Abenteuer fest und bewege mich Richtung Richardplatz und erschrecke dabei über die Menschen, die an mir vorbeilaufen, als wäre nichts geschehen! Die die Tragödie und das Schicksal der Menschheit, wenn Planeten Bowling spielen auf die leichte Schulter nehmen und weiter ihren Geschäften nachgehen als würde es ein Morgen geben! Autos einparken! Kinder zur Schule bringen! Ein Brötchen essen!! Ich bin schockiert. Aber was tut man nicht alles für sein ganz persönliches Erlebnis. Richtig. Man hält daran fest.

In Gedanken auf dem Weg zum Richardplatz glaubte ich zu spüren wie es kälter wird und das Licht an den Hauswänden ergraute. Ich musste an Filme wie Melancholia von Trier oder Space Odyssee 2001 von Kubrik denken, an The Book Of Eli und die alten Geschichten aus dem amerikanischen SF Magazine of Fantasy and Sience Fiction, welches damals noch völlig unbekannte viele uns heute bekannte und namhafte Schriftsteller als Kurzgeschichtenerzähler entdeckte und veröffentlichte und wo Geschichten wie „Sterbliche Götter“ oder „Das Schiff der Schatten“ oder die Geschichte von dem jungen Baum der das Licht suchte einen ganz eigenen Blick auf die Welt und das Universum zuließen.

Am Richardplatz angekommen bin ich erleichtert: Neben Gassi geführten Hunden und Kindern, endlich, ein kleines Teleskop und eine auf einem Stativ aufgebaute Fotokamera zeigten mir, dass es noch nicht verloren sei um die Menschheit. Schnurstracks bewege ich mich in Richtung eines auffällig gekleideten sympathischen Mannes, der sich neben der besagten Fotokamera positioniert hatte und sich gerade eine Kippe anzündete. Der Mann gefällt mir, dachte ich. Er trug einen auffälligen schwarzen Schlapphut mit Spiegelsplittern in der Krempe, unter dem sich ein interessantes Kinski ähnliches Gesicht verbarg. Auch die längeren blonden Haare unter dem Hut passten dazu, aber seine Gesichtszüge waren wärmer und entspannter als bei Kinski. Man könnte auch sagen: er war was Kinski im besten Falle hätte sein können. Die Kleidung, die warme sympathische Aura, die diesen entspannt neben der Kamera rauchenden Mann umgab, und der Aufbau der Kamera selbst neben ihm übten einen gewissen Sog auf mich und mein Bedürfnis dieses Erlebnis gebührend zu ehren aus.

Seine Augen begrüßten mich schon von Weitem und wir nickten wohlwollend uns zu. Ich stellte mich der Situation entsprechend wortkarg und das Licht in der Umgebung musternd neben ihn und drehte mir eine Zigarette. Er wartete auf mein Stichwort. Ich sagte, dem Dialogbuch folgend: „Hey. Na. Und? Schon was zu sehen?“ und zeigte mit meinem Kopf in Richtung Kamera, während mein Tabakbeutel unterm Arm klemmte. Lässig mit der Kippe in der Hand signalisierte er mir erwartungsgemäß, dass ich gern einen Blick auf den Kameramonitor werfen könne und ganz erstaunt musste ich beim Hinschauen feststellen, dass die Sonne tatsächlich schon zur Hälfte bedeckt war. Wie gern hätte ich jetzt nach oben geschaut, um mich zu vergewissern, dass die Kamera nicht lügt. Ich ahnte aber schon, dass man außer einen hellen Fleck, wie immer, nicht viel sehen würde. Nur das Licht in der Umgebung wirkte unheimlich. Wir nickten uns zu und zogen beide an unserer Kippe, wie zwei Jugendliche, die sich zum Anschweigen auf dem Hinterhof zum Rauchen getroffen hatten. Ich bin froh ihn getroffen zu haben. Er wirkte auf mich wie jemand, der wie ich aus Kreuzberg ausgezogen ist um sich in Neukölln vor den Bio-Müttern und Neo-Hippies zu flüchten und das alte Kreuzberg noch einmal zu durchleben. Ich frage: „Wohnst du hier in der Gegend?“ Sein Stichwort: „Ja. Bin aus Kreuzberg raus hierher.“ Wir grinsen uns an. Es kommt zu einem kleinen spannenden Austausch über Lebenswege, über seinen Lebensweg, wie er in den 80ern mit den Worten verabschiedet wurde: „Es wäre für beide Seiten sicher besser, wenn sie einen Ausreiseantrag stellen würden ...“ Darüber, was Berlin ist und war, und immer wieder ein kurzer Blick auf die Kamera.

„Ich werd es ins Netz stellen. Im Zeitraffer“ sagt er plötzlich. Ich frage „Hey, das ist ne gute Idee. Wo denn?“ - „Auf #Youtube.“ - „Wie finde ich Dich da?“, frage ich in der Befürchtung über Katzenvideos und Arge-TV-Beiträge stolpern zu müssen bevor ich ihn gefunden habe. „Ingo Sinnlos“ antwortete mir der sympathische Mann und lächelte. Das kann ich mir merken, denke ich während ich bereits schon in ein Parallelgespräch mit einer jungen Französin verwickelt wurde, welche in regelmäßigen Abständen den Altersschnitt der kleinen Runde herabsenkte, um einen kurzen Blick in die Kamera zu ergattern und sich ein wenig mit uns auszutauschen. Sie wirkte sehr an Menschen interessiert, was ich grundsätzlich immer schon sehr sympathisch finde und in der heutigen Zeit nicht selbstverständlich. Wir kommen ins Gespräch über Berlin, Paris, Frankreich, wie sie aus Frankreich nach Deutschland kam, über den Süden Frankreichs und die Villen der Reichen, die im Süden Frankreichs die Provence suchen und damit gleichzeitig vertreiben, und ich blicke dabei immer wieder hinüber zu Ingo Sinnlos und denke an unsere Flucht aus Kreuzberg. Ich spürte wie wir alle ohne Worte die gleichen Gedanken teilten und gleichzeitig genug am Leben gereift waren um zu denken: „So ist das nun mal.“

Wie gern würde ich jetzt Ingo Sinnlos und die nette Französin zum Kaffee oder Wein einladen, etwas kochen und bis in die Nacht Gespräche führen. Dabei immer wieder aufstehen und etwas aufschreiben, für Texte wie diesen. Leider ist das Leben heute nicht langsam genug dafür. Wir alle blicken abwechselnd auf die Uhr, tauschen Email Adressen aus, lächeln uns zu, mustern die Kamera, die uns gerade verrät, dass wir bereits über dem Höhepunkt hinweg sind. Wir verabschieden uns freundlich und ausgiebig und gehen unserer Wege. Ingo Sinnlos bleibt noch vor Ort, um den richtigen Abschluss für seine Aufnahmen zu finden, die Französin eilt nach Hause um DSL per Post in Empfang zu nehmen und ich haste zurück an den Schreibtisch und denke dass es wahrscheinlich bald Zeit wird Neukölln zu verlassen und freue mich über die neuen Kontakte.

Ob Ingo Sinnlos in Neukölln bleiben wird? Weshalb bin ich heute noch einmal losgegangen?

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