Das Gros der Menschen lesefaul? | FASSETTE.NET
- Aber wer liest dann das Internet?
- Das multiple Interview ...
- Aber wenn die Mehrheit der Menschen so lesefaul wäre, würde dann das Internet oder der Smart-Phone-Markt überhaupt in der Form funktionieren?
- Author: Fassette Redaktion, Datum: 15.Apr.15
E-Books, Online-Magazine, Social Web Artikel, die Fluten an Kommentaren unter Zeitungsartikeln. Wo ist der Mensch, der seit vielen Jahrzehnten von Lehrern, besorgten Eltern, Autoren und Erziehungswissenschaftlern, Bildungsforschern und Verlegern mehrheitlich als lesefaul hingestellt wird? In Zeiten von 140 Twitterzeichen könnte man das durchaus wieder als bestätigt betrachten.
"Studenten verstünden abstrakte Texte nicht mehr. Ein Schulbuchverlag kürzt Klassiker, Banker besuchen Lesekurse: Viele Deutsche haben wohl keine Lust mehr zum Lesen." In seiner Reportage „Ein Land verlernt das Lesen“ zeichnete - so heißt es - Roman Pletter ein "fassetten"-reiches Bild der Lesekultur in Deutschland. Besucher von Alphabetisierungskursen für Erwachsene kommen darin ebenso zu Wort wie Schnelllese-Trainer für Manager. Für den in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienenen Text erhielt der Autor den dritten Preis des Dietrich-Oppenberg-Medienpreises 2010. Dieser würdigt wohl herausragende journalistische Beiträge zum Thema Lesekultur.
Aber wenn die Mehrheit der Menschen so lesefaul wäre, würde dann das Internet oder der Smart-Phone-Markt überhaupt in der Form funktionieren? Wie viel Buchstaben liest der Mensch im Schnitt am Tag und was wird wie verarbeitet?
Wir haben unsere Autoren sowie Gäste befragt und hier die Antworten für euch gesammelt. Wir stellen euch damit auch gleich eine neue und demnächst öfter auftauchende Form des Fassette-Interviews vor. Wo nicht eine Person zu verschiedenen Themen sondern mehrere Personen zu einem Thema befragt werden:
Interview-Partner und ihre Antworten:
Larissa Neuhofer – Autorin bei FASSETTE
Ich habe vor Kurzem gehört, dass sich Schüler einer 9. Schulklasse bei dem Suhrkamp Verlag über den komplizierten Satzbau in Klassikern, die sie im Unterricht lesen müssen, beschwert haben und den Wunsch äußerten, der Verlag solle doch bitte das sogenannte "barrierefreie Lesen" ermöglichen, in dem schwierige Wörter und komplizierte Sätze ausgetauscht würden. Es gibt auch schon seit langem Verlage die diesem Wunsch nachgehen und Texte, auch in Klassikern bearbeiten und die von den Schülern als schwierig empfundenen Wörter eliminieren. Auf Kosten des Werksinhalts. Ich bin mir nicht sicher inwiefern dies mit einer Theorie über die Tendenz zur Lesefaulheit einhergeht aber es hat mich so sehr erschüttert, dass ich es in dem Zusammenhang erwähnen möchte. Wenn ich noch eine kleine Leseempfehlung zu dem Thema aussprechen darf, würde ich gerne auf den Artikel "Literatur in der Schule - Warum Klassiker?" den die Frankfurter Allgemeine im März veröffentliche, verweisen: http://faz.net.
Julia Sager – Augenoptekerin
Ja, interessantes Thema. Und es gibt scheinbar verschiedene Auffassungen und Studien darüber. Die am weitesten verbreitete Meinung dazu scheint wohl zu sein, dass wir immer weniger lesen und unsere Ausdrucksform und Rechtschreibung immer schlechter wird. Was ich einerseits verstehen kann, wenn ich Grammatikfehler in dick gedruckten Überschriften namhafter Zeitungen finde und eine Hand voll flüchtiger Rechtschreibfehler in Artikeln, von denen ich ausgehe, dass sie vor Veröffentlichung von einer Menge schreibender und lesender Menschen überprüft wurde. Aber vielleicht hat man da auch ein falsches Bild von einer Redaktion und unterschätzt erstens die Arbeit und Resourcen die es braucht eine Zeitung zu betreiben und zweitens auch das vielleicht Gewollte dahinter. Aus meinen persönlichen Erfahrungen kann ich allerdings eher Positives berichten. Ich war als Kind und Teenager wohlwollend gesagt eher "lesefaul" und die Anzahl der Bücher die ich gelesen hatte, konnte man an beiden Händen abzählen. Doch mit dem vermehrten Aufkommen und täglichem Gebrauch des Internets und auch der sozialen Medien las ich immer mehr. Man ist auf einer sozialen Plattform unterwegs und auf einmal liest man einen kurzen Ausschnitt eines Artikels, den ein Freund gepostet hat: Interesse geweckt und drauf geklickt. So ist es viel natürlicher sich mit allerlei Themen zu beschäftigen, da sie aus eigenem Interesse aufkommen. Natürlich kann man dann auch gleich noch den dazugehörigen Wikipedia-Eintrag lesen und der Diskussion unter dem Artikel folgen, der einen gleich wieder auf den nächsten Artikel stoßen lässt. So vergehen ohne das man es merkt 2 Stunden, in denen man gelesen hat. Das hätten sich meine Eltern nie träumen lassen. Lacht
Christian Phiel - Mitarbeiter der FASSETTE Redaktion
Ich denke der Mensch wird nicht lesefauler werden als er es je war, da die Schrift neben der Sprache wichtigstes Kommunikationsmittel ist und die Beschwerde darüber dass man zu wenig lesen würde alle Zeiten überbrückt in denen der Mensch lesen durfte. Das war ja auch nicht immer selbstverständlich, wie wir nicht vergessen sollten. Lesen ist heute eine Selbstverständlichkeit. Man liest ja auch permanent kurze Texte oder Wörter fast schon unterbewusst im Alltag, wie z.B. die Schlagzeile der Zeitung am Kiosk, die Verkehrsschilder, Werbeplakate, das Graffiti an der Häuserwand (sofern dechiffrierbar), usw. Diese Lesefaulheit rührt eher daher, dass das Internet eine Revolution der Lesegewohnheiten mit sich brachte. Bücher und Zeitungen werden nicht mehr in so großen Auflagen verkauft, weil jetzt ja "alles" im Netz kostenlos ist, was beiträgt zu diesem Schluss zu kommen. Doch treibt man sich dann im Netz herum, siehe da, ohne Lesen kommt man selbst da nicht weit. Außer man begnügt sich damit ein paar Bildchen oder Videos anzusehen. Die Jugendlichen, die ja als Paradebeispiel für Lesefaulheit herhalten, sind ja teilweise schon geächtete der kultivierten Gesellschaft. Doch ich könnte mir sogar vorstellen, dass manch Jugendlicher heutzutage sogar mehr liest, als seine Zeitgenossen in früheren Generationen, da das Smartphone ja immer griffbereit ist und die nächste SMS oder Whatsapp Nachricht, die vielen Twitter Streams, usw. meist nicht lange auf sich warten lassen.
Rainer Leisering - FASSETTE Gast Kolumnist
Es wird häufig behauptet, dass Kinder und Jugendlichen heutzutage auf Grund von Computerspielen weniger lesen als frühere Generationen. PISA-Studien untermauern diese Aussage scheinbar auch noch. Unbestritten ist jedoch, dass Lesen in der heutigen Welt eine Schlüsselkompetenz darstellt und diese auch dazu beiträgt, die sozialen und beruflichen Weichen zu stellen. Ich denke zwar schon, dass das Internet eine gute Spielwiese bietet für all diejenigen, die dem geschriebenen Wort auch mal gern versuchen aus dem Weg gehen. Z.B. im Netz kursiert dafür eine eigene Abkürzung: tl;dr ("Too long; didn't read"). Diese Abkürzung gibt es nicht ohne Grund denn die Textlänge ist nicht selten das entscheidende Kriterium dafür, ob etwas im Netz gelesen wird oder nicht. Und das Verwenden dieses Kürzels ist sehr wahrscheinlich eher selten dem Umstand geschuldet, dass der Leser ein unter Zeitdruck stehender Workaholic ist. Es hat wohl eher damit zu tun, dass er zu unwillig war den langen Text jetzt zu lesen. Vielleicht sind wir aber auch schon zu sehr durch die Schnelllebigkeit unserer Zeit und verstärkt durch das Internet darauf getrimmt Informationen und Nachrichten möglichst kompakt zu empfangen. Das bedeutet ja eigentlich nur, dass es für Texte verschiedener Inhalte und Längen gute und eben auch schlechte Plattformen gibt. Und diese kann man sich mancherorts ja Gott sei Dank aussuchen. Und ich glaube schon dass das Lesen von Twitter-Nachrichten irgendwann langweilig wird und man mit Suchmaschinen die auf lange Texte verweisen am Ende schneller an sein Ziel kommt als immer auf launische Links meiner "social friends" zu klicken. Es gibt sogar eine Menge Kids die Lesen als die neue "coole" Errungenschaft betrachten und ihren twitternden Eltern zum Trotz Bücher lesen. Hierzu eine kleine Statistik: http://statista.com/
Aus den Fassette Themen-Ressorts: Kultur, Panorama, Interviews, Eindrücke
Ich glaube ja, dass es gar nicht an einer bestimmten Generation liegt, oder an dem Medium in/mit dem man liest, sondern das es "einfach" darauf ankommt, ob man früh genug Freude am lesen und die sogenannte Lesekompetenz entwickelt. Das wird meiner Meinung nach zu spät, erst mit dem ersten Schultag gefördert. Die 5 – 7 Jahr davor wird das Kind eben mit anderen Dingen beschäftigt und lesen, oder zumindest Buchstaben erkennen, gehören oft nicht zum Programm. Daher denke ich ist es ganz egal, ob man ein Buch, ein E-Book, ein Blog, eine Online Zeitschrift liest. Wer gerne liest der liest und wem das lesen Probleme bereitet (Textverständnis, Wörter statt Buchstaben erkennen uvm.) der liest auch nicht mehr im Internet, als er in einem Buch lesen würde. Dafür gibt es einfach auch zu viele Wege um um das Lesen herum zukommen. Stichwort: Tutorials, Lernvideos, usw. Ein ganz gutes Interview dazu von 2007 in "Die Zeit" http://www.zeit.de/online/2007/43/interview-kinder-lesen